Zu Pappelblatt II

Zu Pappelblatt II


Augustin und die Rede der Toten

„Ja, lach nur, du lebst, aber jetzt bist du hier bei uns“ wisperten die Toten in der Grube. Verwirrt schlug Augustin die Augen auf. Langsam kam ihm zu Bewusstsein, dass er in der Grube  bei den Toten lag. Er war mit Kalk bedeckt, aber er war nicht tot.
„Lach nur, tanz und sing uns ein Lied, lieber Augustin“, flüsterten die Toten  ein wenig hämisch. Einer von ihnen wandte sich an die anderen. Sie unterhielten sich leise untereinander und schließlich forderten sie Augustin gemeinsam auf: „Sing uns das Lied vom Tod“ – „nein, nein“, meinten andere „sing uns lieber das Lied vom Leben!“
Verschwommen zogen Bilder und Erinnerungen durch Augustins Kopf. Hatte er vielleicht -  ja sicher -  zuviel – war er gestolpert und …?
Unter dem Raunen der Toten begann Augustin mühsam aus der Grube zu klettern. Er versuchte das Gleichgewicht zu halten, um nicht zuviel vom Inhalt der Flasche zu verschütten, die er wie einen Schatz fest in einer Hand hielt.
„Bleib da, Augustin, du kannst nicht ewig leben“, flüsterten die Toten.
„Lange genug hast du es geschafft, einmal ist es eben aus!“ mahnten sie eindringlich. „Erinnerst du dich, damals, während der Pest, da hast du dann gesungen: „Alles hin – Geld ist hin, alles hin – ach ich armer Augustin“.
Freundlich redeten sie ihm zu: „Lass es gut sein, bleib bei uns“,

Nun unterhielten sich die, die im Grab lagen, untereinander: „Wolltet ihr denn wie Augustin leben?“, nein“,  flüsterten alle. „Niemals! Seht, jetzt hält ihn nur noch die Flasche mit Wein aufrecht. Aber so wie wir, hat auch er alles verloren! Wie könnte es denn mit ihm weitergehen? Nach dieser Katastrophe?“
Augustin, jetzt am Rand der Grube stehend, rieb sich den Schlaf aus den Augen und klopfte sich den Kalk aus Jacke und Hose. Nur zur Hälfte hörte er die Worte und Sätze die ihm aus der Tiefe entgegentönten:
„Siehst du es nicht Augustin? Die schwarzgrauen Wolken, die Städte leer ohne Menschen, die Häuser liegen in Schutt und Asche, die Vögel sind tot vom Himmel gefallen – es ist das Ende der Welt – „Armageddon“ -  krächzte einer. Und ein anderer,  nur mehr Knochen, aber mit blank geputzten, glänzenden Stiefeln ächzte: „Walhalla brannte und die Erde auch. Ja, damals  - ich habe ich dich gesehen – da bist du auch davon gekommen“. Und ein dritter, den Turban zurechtrückend: „Ist doch wahrscheinlich die Sonne im Westen aufgegangen! Und du bist immer noch da.“
Augustin dachte nach und schämte sich ein bisschen. „Eigentlich“, so überlegte  er, sich zurück erinnernd, „bin ich immer, schon seit der Eiszeit, davon gekommen und  habe  überlebt“.
„Einmal“, flüsterten die Toten, „einmal, vor Jahrhunderten, hast du einen Satz gehört, der dir sehr gefallen hat – also wenn wir uns recht erinnern lautete er so: Und wenn morgen die ganze Welt in Trümmer fällt, so werd ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Apfelbäumchen pflanzen hat etwas mit Arbeit zu tun und arbeiten ist nicht unbedingt etwas, das du gerne machst. Aber der Satz hat dir gefallen.“
„Weißt du übrigens, dass du uns schon früher recht geärgert hast? Da hast du vor dich hingesummt: Ich geh und weiß nicht wohin, mich wundert’s, dass ich so fröhlich bin! Warum, um Gottes Willen warst du wirklich fröhlich?“
„Nicht einmal Kafkas „Hinrichtungsmaschine - Jeden Tag führten sie ihn hinaus  und …“ hat dich in eine tiefe Depression stürzen lassen“, dachte empört ein ehemaliger Germanistikstudent.
Ein Raunen ging durch die Menge der Toten:
„Grundsätzlich dürftest du nicht fröhlich sein, keine Apfelbäumchen pflanzen wollen und nicht mehr singen. Traurig solltest du sein und niedergeschlagen -  vom Elend der Welt zerstört, solltest du dir den Tod wünschen und bei uns in der Grube liegen!“
„Ach was“, sagte Augustin „es wird schon wieder!“ Erschrocken hielt er inne – was habe ich da gesagt, dachte er  - ist das nicht der Satz den meine Großmutter so oft gesagt hat – der Satz der mich hätte trösten sollen, der mich aber bis zur Weißglut wütend gemacht hat? Betroffen wandte er sich zum Weggehen, um nach etwas Trinkbaren zu suchen, denn der Durst quälte und die Flasche war schon wieder leer. „Der Kalk hat meine Kehle rau gemacht, es ist ein Ausnahmezustand“, entschuldigte er sein Bedürfnis nach Alkohol.
„Ja, ja“, sinnierte er, noch eine Blick auf die Toten werfend und murmelte: „der Tod ist ein Gleichmacher“.
Aber da zischte es blitzartig aus der Grube: „Lügenpresse! Lügenpresse! Bewegung kam  in den Haufen. In der Mitte der Grube sah Augustin eine knöcherne Hand, die nach einer neben ihr liegenden Kalaschnikow  greifen wollte, aber kraftlos zurücksank.
„Ihr seid die Bösen!“,  „wir sind die Guten!“, schrien jetzt alle durcheinander. Da wurde  Augustin ärgerlich: „Schämt euch“, rief er, „ihr seid alle tot  und es fällt euch  nichts Besseres ein, als wieder zu streiten?“
Augustin blicke  auf die menschlichen Reste, die jetzt beschämt wieder zur Ruhe gekommen waren. „Oh, da habe ich wohl die letzten individuellen Identitäten beleidigt“, dachte er und mit einem „Tschuldigung, ich geh jetzt “ wandte er sich um, der zerbombten Stadt entgegen.
„Ist die Erde bewohnt?“, überlegte er, als er sich durch Trümmer einen Weg suchte. Augustin war ein Freund der Literatur und so fielen ihm immer wieder allgemein bekannte Zitate ein. Aber er hatte sein Studium  abgebrochen um sich ausschließlich philosophischer Betrachtungen zu widmen.  Dass dazu auch der Rotwein nötig war versteht sich von selbst.
Es war beängstigend still, nur hin und wieder hörte er den Aufprall von Trümmern, die sich immer wieder von den Fassaden lösten und am Boden aufschlugen.
Links und rechts um sich blickend achtete er auf jeden kleinsten Hinweis um ein Geschäft oder eine Kneipe  ausfindig zu machen zu können. Schmerzhaft wurde ihm das Fehlen der stärkenden Flüssigkeit bewusst. Alle möglichen Dinge lagen herum: zerschmetterte Kronleuchter, zerrissenes Bettzeug aus dem die Federn flogen,  gelbe Plastikenten und Armbanduhren ohne Zeiger. Aber dann, nach einiger Zeit in der er in den Trümmern herumgeirrt war, erblickte er einen herumliegenden beschädigten Eiskasten. Er lief darauf zu,  öffnete ihn nach kurzer Anstrengung – und tatsächlich, da lagen zwei Flaschen vom besten Burgunder.  Erleichtert setzte er sich auf einen Betonklotz und öffnete eine der Flaschen. „Könnte eine alte, schwache Frau diese Flasche öffnen“? fragte er sich noch, bevor er zügig daraus trank, bis kein Tropfen mehr drinnen war.  Nun war die Welt wieder in Ordnung!
Angenehm benebelt dachte er: „Da sitz ich nun, ich armer Tor und bin“ – er hielt inne und versuchte sich zu erinnern – hieß das  „da sitz ich nun“ oder hieß das „da steh ich nun ich armer Tor“? Er dachte hin und her, er konnte das Zitat auch nicht googeln, denn er hatte sein Handy in den turbulenten Ereignissen verloren.
Verträumt blickte er in die Ferne und sah die unbeschädigt gebliebene Spitze eines Kirchturmes. Der Alkohol und dieses Wunder regten seine Gedanken an. Die Frage, wie viele Engel auf der Spitze eines Kirchturms sitzen könnten,  bewegte ihn. Wie viele sogar auf der Spitze einer Nadel? Er sah sie vor sich – die Engel, die um den Turm herumflatterten, sich gegenseitig den Platz streitig machten, und einer den anderen wegschubsten, aber er konnte diese Frage, so spannend sie auch war, nicht lösen.
Gerade als er sich wieder darüber nachdachte ob diese Erde wohl bewohnt sei,
sah er eine weiß, schwarz, rotbraun gefleckte Katze, eine sogenannte Glückskatze. Sie kam mit hungrigen Augen näher, schüttelte aber, nachdem sie erkannt hatte dass Augustin für eine Maus, das heißt, für ein Mittagessen, zu groß war, angeekelt die Pfote und verschwand wieder zwischen den Trümmern.
„Die Erde ist bewohnt“, seufzte Augustin erleichtert und schlenderte, etwas schwankend, zurück zur Grube.
Er schaute hinein. Und da lagen sie, seine Toten, und schliefen tief und fest. Nur manchmal war ein  leises Schnarchen zu hören. „So seid ihr mir am liebsten“, dachte Augustin gerührt, bevor er sich müde ins Gras setzte.
Wirre Gedanken liefen durch seinen Kopf. „Es wird schon wieder“ - der Satz seiner Großmutter fiel ihm ein -  „es wird schon wieder“.
Er trank die zweite Flasche leer und bevor er einschlief murmelte er noch: „Morgen ist auch noch ein Tag“ –  denn er hatte  „Vom Winde verweht“ gelesen.

Eva Meloun

Anmerkungen – wenn notwendig

1   „Spiel mir das Lied vom Tod“  Western
2.   Augustins Lied
3.   Armageddon – Ort der endzeitlichen Entscheidungsschlacht
4.   Walhalla – Germanischer Götterhimmel
5.   Wenn die Sonne im Westen aufgeht - Islam Weltende
6   „Wir sind noch einmal davon gekommen“ von Thorton Wilder
7.  „Und wenn morgen….“  Luther
8.  „Ich geh und weiß nicht wohin…“  Angelus Silesius
9.   „Die Hinrichtungsmaschine“  Kafka
10. „Ist die Erde bewohnt“  Egon Friedell
11.  „Da steh ich nun…“  Goethe Faust
12.  „Wie viele Engel…“   Morgenstern
13.  „Vom Winde verweht“  Margret Mitchell