Barmherzigkeit

Barmherzigkeit

 

Das ist der Schatten, der auf das

Bemitleidenswerte, das Schreckliche

und das Grauenvolle des Helfenden fällt

 

… und die Angst vor der Ansteckung, die

das Schreckliche ausübt

Stephan Zweig

  

Apathisch saß der Mann am Tisch, stierte auf die Tischplatte, die mit eingravierten Zeichnungen und ungelenkten Buchstaben bedeckt war.

Er schreckte auf, als der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Der Gefängniswärter, ein kleiner, älterer Mann, betrat die Zelle.

 

„Also was wolln’s“, sagte er in einem ungewohnt leisen Ton. Der düstere, schwere Mann am Tisch sah nicht auf, aber mit brüchiger Stimme antwortete er: „A Schweinsbratl mit Erdäpfln und Knedln, a Kartenspü und a Hur“.

„Kummt“, sagte der Wärter, sah noch kurz auf die grauen, zerzausten Haare, das verwüstete Gesicht und schloss die Türe hinter sich wieder zu.

Die vielen Jahre im Gefängnis hatten den Wärter stumpf werden lassen, aber die letzten Wünsche eines Delinquenten am Abend vor der Hinrichtung hatte er, so gut es möglich war, immer erfüllt. Nein, leid tat ihm dieser Mann nicht, ein Raubmörder, der um ein paar Kreuzer eine alte Frau brutal erstochen hatte, doch ein ihm selbst unerklärliches Gefühl drängte ihn auch diesmal, die letzten Wünsche dieses Menschen zu erfüllen.

Es war dunkel, eiskalt und nebelig, ein Novemberabend, an dem niemand freiwillig auf die Straße gehen würde. Dennoch zog der alte Wärter seinen Mantel an und eilte zum nächsten Gasthaus, das Schweinerne mit Erdäpfeln und Knödeln zu bestellen. Er überlegte, dass er selbst ein Kartenspiel in der Schublade seines Dienstzimmers liegen hatte, und hastete die spärlich erhellte Gasse hinauf, bis ihm ein hin- und herschwankendes rotes Licht ein Bordell anzeigte.

Wärme, schwüles Rot, Rauch, Dunst von Alkohol, nackte Arme und Beine, das Klirren der Gläser und kreischendes Lachen schlug ihm entgegen.

„Meine Damen, ane von eich brauch i für mein Delinquenten, morgen is aus mit eam, und er wü a Hur für sei letzte Nacht.“

Das laute Lachen und Gekicher verstummte schlagartig.

Dann Raunen und Geflüster, dann Lachen und unflätige Worte. „Also, wer kummt mit?“ Er schaute in die Runde. Er hörte vielstimmiges „Na, i ned!“, und: „Mit so an scho goar ned.“

Es gelang dem alten Gefängniswärter nicht, eine der Prostituierten zu bewegen, mitzukommen. Nicht einmal mit der Zusage, für diese Dienstleistung das Doppelte zu bezahlen,

So erging es ihm auch im zweiten Bordell, das er hoffnungsvoll aufsuchte. Die Ablehnung seines Ansinnens war einstimmig und wurde auch von der sonst geldgierigen Bordellwirtin unterstützt.

„Soichane Hurn“, dachte er verärgert. „Büdn si was ein.“ Aber obwohl er doch auch etwas Verständnis für diese „Weiber“ hatte, suchte er nun verbissen, auch wenn die Nacht immer ungemütlicher wurde, noch ein drittes Establishment auf.

Auch hier erlebte er die gleiche Situation – zuerst entsetztes Schweigen, dann vehemente Ablehnung. Keine wollte mit so einem Verbrecher, der morgen hängen würde …

Missmutig wandte er sich zur Türe, als er ein dünnes Stimmchen durch den Lärm hörte. „Der tuat ma oba load, a wanna a schlechta Mensch is – wanna morgn in da Fruah …“ Sie sprach nicht weiter. Der Wärter drehte sich um, und vor ihm stand ein dünnes, blasses Mädchen, kaum älter als sechzehn Jahre. Die Dirne neben ihr kreischte: „Bist deppad, an, dens morgn aufhängan, mit so an kunnt i ned – Mitzi, mit so an wüst du ins Bett gehn?“

„Na, wann des eh sei letzte Nacht is“, rechtfertigte sich das Mädchen. Und dann, nach kurzem Überlegen: „I tuas“

Schnell griff der Wärter nach ihrer Hand, rief nach einem Mantel für sie, und beide verließen das Bordell unter lautem, unflätigem Lachen und Rufen der anderen.

Schweigend und hastig zog er die magere Gestalt hinter sich her, holte noch aus der Gaststätte das Schweinerne, dazu ein Bier, und brachte die „Hur“, das Essen und das Kartenspiel in die Zelle des Verbrechers.

„Oisdann“, sagte er kurz und zufrieden mit sich selbst und sperrte die Tür hinter sich zu. Er hatte getan, was er konnte.

Das junge Mädchen setzte sich auf die Kante der Pritsche und schob das zerwühlte, schmutzige Betttuch zur Seite. Der Kübel in der Ecke stank erbärmlich, obwohl ein Holzdeckel darauf lag.

Jetzt kam ihr die Tragweite ihres Handelns zu Bewusstsein. Doch sie nahm sich vor, keine Angst zu zeigen.

Sie sah den breiten Rücken des Mannes mit der schäbigen Jacke, die grauen Haare und die klobigen Hände, die in rasender Wut zugestochen und noch und noch zugestochen hatten. Wortlos wartete sie, während der Mann den Schweinsbraten aß und das Bier trank.

Auch er sprach kein Wort, schaute sich auch nicht nach ihr um und griff, als er mit dem Essen fertig war, nach dem Kartenspiel.

Er spielte die ganze Nacht.

Manchmal fluchte er und manchmal gab er keuchende Geräusche von sich. Hin und wieder hörte das Mädchen, wie er die Karten wütend auf den Tisch schmiss, um sie dann wieder neu zu mischen.

Für dieses noch halbe Kind auf der Pritsche war es, als würde die Zeit stehen bleiben, und sie dachte, dass dieser Mann jederzeit kommen und sie und ihre Dienste brutal beanspruchen könnte. 

Aber er saß da, ihr noch immer den Rücken zukehrend, ohne einen Blick auf sie zu werfen.

Die junge „Hur“ dachte an ihre Kindheit – ärmlich, sehr ärmlich war sie gewesen. Arm an Dingen, die man zum Leben braucht, und arm an Liebe. Das Mädchen galt als unnütze Esserin – mager, blass, schwach und als Magd nicht zu gebrauchen. Nicht wie die Mutter, aber vielleicht wie ihr unbekannter Vater. „Muasst halt schaun, dass da wos in da Stadt verdienst“, hatte die Mutter gesagt.

Aber als Dienstmädchen war sie nicht untergekommen. Es blieb nur die Straße, das Bordell.

So saß sie die Nacht über auf der Pritsche im Gefängnis und dachte über ihr Leben und das Leben dieses Mannes nach, der jetzt wie sie im gleichen Raum saß.

Fast wäre sie eingenickt, da hörte sie, wie die Türe geöffnet wurde. Der Wärter schaute zu ihr hin und fragte kurz: „Nix gwesn?“, gab ihr aber doch die vereinbarten Kreuzer und wies sie hinaus.

Der Verbrecher ließ die Karten sinken: „Hamma eh ka Glick bracht“, sagte er. Es waren die einzigen Worte, die er die ganze Nacht über gesprochen hatte.

Dann kam ein zweiter Wärter und sie führten ihn hinaus.

„Gott sei ihm gnädig“, dachte Mitzi, „Gott sei ihm gnädig“ – so hatte sie das früher in der Kirche gehört.

Froh, dass ihr etwas erspart worden war, lief sie im eisigen Morgen durch die noch menschenleeren Gassen ihrem „Zuhause“, dem Bordell, entgegen.

Mit lautem Hohn und Spott wurde sie begrüßt. – Eine, die die letzte Nacht mit einem Galgenvogel hurt.

 „I hab ma halt denkt, wei er – oba es war eh nix“, sagte Mitzi.

 

Als „Galgenmitzi“ musste sie Zeit ihres Lebens Spott und dumme, bösartige Sprüche ertragen.

Mitzi starb mit zwanzig Jahren an Schwindsucht und Syphilis.

 

Im alten Wien war es zeitweise Sitte, dem Delinquenten in der letzten Nacht vor der Hinrichtung noch Wünsche im vorgegebenen Rahmen zu erfüllen. Diese Geschichte ist überliefert.

 

Copyright Eva Meloun